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28. März 2024

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Kinder und ihre psychisch kranken Eltern

Kinder und ihre psychisch kranken Eltern© Pexels.com/cottonbro

Gemeinsames Forschungsprojekt von MedUni Innsbruck und Ludwig Boltzmann Gesellschaft und weiteren Partner entwickelt Hilfsprogramm für betroffene Familien in Tirol. Nach erfolgreicher Pilotphase muss nun die nachhaltige Weiterführung finanziert werden.

(red/czaak) Erhebungen zufolge wächst jedes vierte Kind mit einem psychisch kranken Elternteil auf – und mit einem entsprechend erhöhten Risiko, später selbst psychisch oder körperlich zu erkranken. Kinder von psychisch erkrankten Elternteilen leiden häufig mit, oftmals im Stillen. Viele übernehmen dabei früh viel Verantwortung, fühlen sich minderwertig oder gar schuldig. Und ebenso viele fürchten sich dann vor Stigmatisierung.

Vergleichsweise kostengünstige Vorsorge
Für diese betroffenen Kinder und Jugendlichen fehlt es bisher auch in Tirol an einer flächendeckenden, niedrigschwelligen Präventionsstruktur. Um das zu ändern, wurde vor fünf Jahren unter der Leitung der Sozialforscherin Jean Paul von der Univ.-Klinik für Psychiatrie I der Med Uni Innsbruck das Pilotprojekt „Village“ gestartet und Tirol als Modellregion etabliert. Nun ist diese Pilotphase ausgelaufen und es geht um Fortsetzung und nachhaltige Etablierung.

„Im Vergleich zu den Kosten, die für die psychiatrische Behandlung von Kindern anfallen, wenn Prävention verabsäumt wird, ist die Teilnahme am „Village“-Programm mit rund Euro 1.130 pro Familie bzw. Euro 630 pro Kind kostengünstig“, so die Med Uni Innsbruck in einer Aussendung. Eine nachhaltige flächendeckende Finanzierung ist bisher aber dennoch nicht gelungen.

Regionales und praxisgerechtes Forschungs-Programm
„Unbestritten ist der dringende Handlungsbedarf zur frühzeitigen Unterstützung betroffener Familien und dazu bedarf es sektorenübergreifender Zusammenarbeit. Es ist erforderlich, dass der Prävention politisch jener Stellenwert eingeräumt wird, der international, u.a. von der WHO, schon lange gefordert wird“, betont Wolfgang Fleischhacker, Rektor der Medizinischen Universität Innsbruck

Von der Ludwig Boltzmann Gesellschaft und der Medizinischen Universität Innsbruck mit drei Millionen Euro Förderung ausgestattet, erarbeitete das Forschungsteam mit VertreterInnen von 14 Tiroler Organisationen sowie zwei Erwachsenen mit gelebter Erfahrung auf Basis wissenschaftlicher Analysen zunächst ein Konzept für ein Unterstützungsprogramm. Im Fokus stand dabei insbesondere die direkte Beteiligung von Betroffenen.

Unterschiedliche Perspektiven für umfassendes Gesamtbild
Eine Gruppe junger Erwachsener, die mit psychisch erkrankten Elternteilen aufgewachsen sind, brachte während des gesamten Forschungsprozesses ihre Sichtweisen ein. „Die Einbeziehung der Gesellschaft im Allgemeinen und Betroffenen im Besonderen machen diese wissenschaftlichen Projekte enorm wertvoll. Das Zusammenbringen verschiedener Akteure erlaubt die Einbeziehung unterschiedlicher Perspektiven, um ein Gesamtbild zu erhalten“, so Elvira Welzig und Marisa Radatz, Geschäftsführerinnen der Ludwig Boltzmann Gesellschaft. 
Ziel war, die Familien direkt in der psychiatrischen Praxis abzuholen. Sechs psychiatrische Krankenhausabteilungen und zehn niedergelassene ÄrztInnen beteiligten sich am Screening- und Zuweisungsprozess. Sie unterbreiteten psychisch erkrankten Müttern und Vätern von minderjährigen Kindern das Angebot, als Familie an dem kostenlosen Programm teilzunehmen. Im Rahmen ergänzender Familien- und Netzwerktreffen unter Anleitung von geschulten KoordinatorInnen sollte dann ein Unterstützungsnetz für die Kinder entstehen, wo Verwandte, Nachbarn, LehrerInnen, TrainerInnen und SozialarbeiterInnen inkludiert sind.

Verbesserungen für Familien versus Problem der Stigmatisierung 
Insgesamt wurden im Verlauf des Projekts 96 Familien zugewiesen, von denen 30 das Programm mit vorangehender und abschließender Befragung absolvierten. Die vor Programmbeginn erhobenen Daten geben Hinweise auf eine erhebliche Belastung der befragten Kinder und Eltern, was etwa Gesundheitszustand, Stigmatisierung und übermäßige Verantwortung im Haushalt betrifft. Nach Programmende zeigten sich Verbesserungen bei Kindern und Eltern beim Gesundheitszustand und bei Wissen und Kommunikation über psychische Krankheit innerhalb und außerhalb der Familie. Ebenso verbesserten sich die Eltern-Kind-Beziehung und die Bereitschaft der Eltern, Unterstützung anzunehmen.

„Die Eltern waren mit dem Programm sehr zufrieden, die Kinder gaben gemischte Zufriedenheitswerte an“, resümiert Jean Paul. Kaum jedoch änderten sich das Ausmaß der Stigmatisierung und die Bewertung der Lebensqualität. Bereits die zu Projektbeginn angestellten Analysen ergaben, dass in Tirol ein hohes Maß an gesellschaftlicher Stigmatisierung besteht. Das Forschungsteam setzte dahingehend während der gesamten Laufzeit begleitende Maßnahmen zur Sensibilisierung für das Thema, etwa mit Beiträgen in klassischen und sozialen Medien.

Links

red/czaak, Economy Ausgabe Webartikel, 04.11.2022