Anoraks mit Hirn
Rechtzeitig zum drastischen Wintereinbruch statten O‘Neill und die Interactive Wear AG unsere Snowboarder und Carver mit computerisierter Garderobe aus. Im „Hub“- Anorak sind iPod und Handy integriert."
Diesen Winter ist es endgültig so weit: Die ohnedies bereits allgegenwärtige Heerschar an digitalen Geräten rückt uns in bislang unvorstellbarer Weise auf den Leib. Und dies im Wortsinne – nämlich hautnah. Nun hatten wir uns gerade erst daran gewöhnt, mit diversen Kombinationen von Handy, Pocket- PC oder Palm und MP3- Player in den ausgebeulten Jackentaschen unterwegs zu sein – und schon will uns die Industrie den mobil-digitalen Alltag erneut „komfortabler gestalten“. So entwickelten die Spezialisten für Sportbekleidung der US-Firma O’Neill gemeinsam mit dem innovativen Chip-Hersteller Infineon seit 2002 einen mit viel digitaler Intelligenz angereicherten Snowboard-Anorak, der rechtzeitig zur heurigen Wintersaison in ausgewählten Geschäften (um rund 500 Euro) erhältlich ist.
Kommandozentrale
Nomen ist dabei Omen: The Hub – frei übersetzt: „die Drehscheibe der Vernetzung“ – heißt diese „weltweit erste mobile Kommunikations- und Unterhaltungsjacke“. Eine Eigenschaft, die man dem modisch designten, hochgradig funktional verarbeiteten Allwetter-Textil auf den ersten Blick gar nicht ansieht. Der unauffällig integrierte, jedoch entfernbare iPod-Player und ein spezielles Bluetooth-Modul repräsentieren das digitale Herzstück der Hub-Jacke. Während Ersterer bequem zu Hause auf dem PC mit zum Pistenvergnügen passender Musik befüllt werden kann, übernimmt Letzteres dann unterwegs die kommunikative Verbindung zum mitgeführten Handy. Der entscheidende Clou an dieser radikalen Entwicklung ist jedoch die überaus komfortable Bedienbarkeit von Handy und iPod: Von der BluetoothiPod- Zentrale aus verlaufen fest verdrahtete, jedoch unsichtbar eingewobene Verbindungen zu einem in den Stoff der Außenseite des linken Jackenärmels integrierten Bedienfeld, einer Art Keyboard, das selbst mit Handschuhen eine blitzschnelle Musikauswahl oder Lautstärkeregelung erlaubt. Und wieder andere „Verdrahtungen“ enden bei adäquaten Kopfhörern beziehungsweise bei einer in den Kragen eingebauten Mikrofon- Lautsprecher-Kombination, mit der man Anrufe mit einer spontanen Handbewegung entgegennehmen kann, ohne das Handy mit klammen Fingern aus der Jacke nehmen zu müssen. Das iPod-Musikvergnügen wird während des Anrufs sogar automatisch unterbrochen – und erst fortgesetzt, wenn das Gespräch beendet ist. Und für jene Zeitgenossen, die all die faszinierenden Funktionen von „The Hub“ auf der Piste nutzen wollen, jedoch ihren zwar um sündteures Geld erstandenen, leider aber digital unfähigen Goretex-Anorak nicht gleich wegwerfen wollen, hat O’Neill ein weiteres attraktives Produkt im Programm: einen intelligenten Solar-Rucksack namens „H2 Series Backpack“.
MP3-Player im Anorak
Dieser bietet nicht nur durchwegs alle zuvor beschriebenen Features des Hub-Anoraks, wie etwa ein von der darauf spezialisierten Firma ElekTek entwickeltes und am linken Tragegurt eingewobenes „Control Panel“, sondern erhöht zudem auch den „energetischen Aktionsradius“ des modernen Wintersportlers. Zwei an der Außenseite angebrachte und flexible Solar-Panels versorgen über einen in den Rucksack integrierten Akku sowohl Handy als auch iPod und Bluetooth-Modul mit dem nötigen Strom. Dabei identifiziert ein spezieller Konverter-Chip, welche der mittels USB-Schnittstelle angeschlossenen Geräte gerade eben den dringendsten Energiebedarf anzeigen – und teilt diesen ein Extra-Quantum des wertvollen Sonnenstroms zu. Kurz: Die mit dem H2 Solar Backpack ausgerüsteten Snowboarder können iPod und Handy auf der Piste (zumindest bei idealem Wetter) ausnutzen, bis der Ohrenarzt kommt. Trotz all der im HUB der H2 Series von O’Neill unscheinbar integrierten digitalen Intelligenz sehen viele Experten darin erst den Beginn eines mächtigen Trends hin zu so genannten „Wearable Electronics“. Der aus dem Nichts entstandene Neo- Markt, der 2004 immerhin bereits ein Volumen von 200 Mio. Dollar generieren konnte, wird jedoch in den kommenden Jahren noch ein gehörig Maß an Investitionen in entwicklerisches Know-how erfordern. Dies war wohl auch der Hauptgrund, warum sich Infineon, der Initialpartner bei The Hub von O’Neill, im heurigen Sommer aus der Entwicklung von „Smart Clothes“ zurückzog. Und einem Management-Buyout zustimmte, bei welchem nahezu die gesamte Führungscrew samt Entwicklerteam – nunmehr als Interactive Wear AG – weiter an neuen Ideen und Produkten schmiedet.
Aber auch andere Mitspieler arbeiten in ihren Labors bereits unter Hochdruck an interessanten Funktionalitäten: wie etwa an speziellen, in Kleidung oder Skiern integrierten Hightech-Modulen, die einem in der Alpenregion etwaig vorhandenen „Wireless LAN“ ganz nebenbei gezielte Informationen (wie Pistenzustand oder Liftfrequentierung) entlocken. Und dies dem Skifahrer in geeigneter Form (etwa über ein wetterfestes LCD am Ärmel) mitteilen könnte. Das Hauptproblem dabei sei, so hört man aus Entwicklerkreisen, vor allem die Alltagstauglichkeit. Die nötige Offroad-Robustheit werde man erst in naher Zukunft garantieren können.
Mächtiger Trend
Wie dem auch sei: Fast alle Experten konzedieren der faszinierenden Idee, dass sie das Potenzial zu einem zwar langsam reifenden, jedoch mittelfristig umso mächtiger wachsenden Trend, kurz: zu einem Mrd.-Euro- Markt habe. Zu einem Trend, der in einer einfachen Tatsache begründet ist, wie Nicholas Negroponte, der Direktor des Media Lab am Massachu-setts Institute of Technology (MIT) im Dezember 1995 überaus plastisch auf den Begriff brachte: „Wir laufen herum wie Packpferde, die mit Informationsgeräten aller Art aufgesattelt sind.“ Seine logische Folgerung: Digitale Geräte diversester Art sollen endgültig „tragbar“ werden – nun aber nicht mehr im Sinne von „Herumschleppen“, sondern im echten Wortsinn: „Wearable Electronics“. Bislang unhandliche Hard- und Software wird zu „Softwear“ – zur „tragbaren Digital-Mode“. Und das Thema fasziniert: Allein in den USA haben viele der renommiertesten Forschungsinstitutionen seit Jahren eigene „Softwear-Labors“: Allen voran die Carnegie Mellon University, das Georgia Tech Research Institute und das Bostoner MIT. In Europa hat sich wiederum der deutschsprachige Raum mit dem Fraunhofer Institut und der Universität München besonders profilieren können. Die Liste der ökonomischen Mitspieler, welche Jahr für Jahr viele Mio. Euro in die Entwicklung von „Wearable Electronics“ investieren, reicht von Sportartikel- Kultmarken wie Nike, Reebok, Burton oder O’Neill über Software- Hersteller wie Microsoft bis hin zu den Unterhaltungsgiganten Disney und Sony. Die reiche Artenvielfalt solcher „Things That Think“ (also „denkender Dinge“) wird laut MIT-Professor Neil Gershenfeld, dem Initiator des „Softwear“- Projektes, ein weit gestreutes Anwendungsfeld finden.
Intelligente Ohrclips
Er denkt dabei etwa an Ohrclips, welche die Biosignale der Trägerin erfassen und erhöhte Blutdruckwerte via Sender an den Hausarzt weiterleiten. Besonders interessant, weil mannigfach einsetzbar, wären elegante „Micro-Optical“-Brillen, die mitten im visuellen Feld des einen Auges auf Pupillengröße einen vollwertigen LCD-Schirm „einspiegeln“, der (während man sich in seiner Arbeits- oder Lebensumgebung „ganz normal“ bewegt) zusätzliche digitale Informationen ins Gesichtsfeld rückt. Die Elektronik ist in Fassung und Brillenbügel nahezu unbemerkbar integriert. Und der funkvernetzte Computer dazu könnte in die Version X einer Freizeit-Jacke à la „The Hub“ ohnedies bereits vorab integriert sein. Dann bleibt wohl nur noch die eine brennende Frage offen: Ob wir Carver und Snowboarder ein solches Mehr an Information in Zukunft mitten im entfesselten Temporausch zu verarbeiten auch in der Lage sein werden? Es sei denn: Man spiegelt uns auch die Warnsignale des drohenden Crash grell blinkend in die Pupille.
Ausgewählter Artikel aus Printausgabe 01/2006